100 Prozent Erbschaftsteuer?

Gerechte Gesellschaft oder Dystopie?

Der Ökonom Guy Kirsch fordert eine Erbschaftsteuer, die faktisch das Erbrecht abschafft. Lesen Sie, was man davon halten kann.

Veröffentlicht am: 29.05.2022
Qualifikation: Rechtsanwalt und Mediator in Hamburg
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Die Erbschaftsteuer könnte man eigentlich vernachlässigen. Knapp 10 Milliarden brachte sie dem Fiskus in 2021. Das ist zwar doppelt so viel wie vor der letzten Reform – aber doch nur ein Krümel im mehr als 800 Milliarden Euro schweren deutschen Steuerkuchen. Dass die Erbschaftsteuer es dennoch regelmäßig in die Schlagzeilen der Gazetten schafft, liegt an ihrer Symbolkraft. Genau wie die (ausgesetzte) Vermögenssteuer gilt sie vielen als Wunderwaffe gegen die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft.

Keine Macht den Toten

Besonders radikal und originell ist dabei die Ansicht von Guy Kirsch, einem Ökonomieprofessor im Ruhestand. Er fordert die Anhebung der Erbschaftsteuer auf nicht weniger als 100 Prozent. Mit dieser Idee hat er es 2016 in die Süddeutsche Zeitung, 2019 in den Spiegel und jüngst auch in die Wochenzeitung „der Freitag“ gebracht. Die dann reichlich fließenden Steuereinnahmen sollen laut Kirsch in einen „Fond“ fließen, der dann in Form von Ausschüttungen für Erbschaften für alle sorgt – in der gleichen Höhe für jeden. Kirsch versteht sich dabei nicht als Sozialist, sondern als Liberaler, für den es ein Unding ist, dass die Toten über das Leben der Lebenden entscheiden.

Garantie des Erbrecht im Grundgesetz

Mindestens ebenso liberal dürften aber wohl diejenigen denken, die Kirsch nicht für seine Erbschaftsteuerreform begeistern kann. Schließlich geht es bei der Forderung nach einer 100-prozentigen Erbschaftsteuer um mehr als die Erhöhung eines Steuersatzes. Faktisch wird damit ja das komplette Erbrecht abgeschafft, also ein klassisches Freiheitsrecht, dass in Art. 14 fest im Grundgesetz verankert ist.

Schenkungen sollen übrigens nach den Befürwortern der Maximal-Erbschaftsteuer ebenso hoch besteuert werden, damit dem Fiskus nicht durch den lebzeitigen Vermögenstransfer ein Schnippchen geschlagen werden kann. Und Ausnahmen für Betriebsvermögen oder Wohnimmobilien soll es auch nicht geben.

Eine Idee zu Ende gedacht

Rechtsanwälte, besonders Fachanwälte für Erbrecht und Steuerberater für die Erbschaftsteuer dürften das besonders kritisch sehen, da sie mit einer solchen Reform nicht weniger als Ihre berufliche Daseinsberechtigung verlieren würden. Aber wie steht es mit der Akzeptanz bei anderen Bevölkerungsgruppen? Häufig dürfte die Möglichkeit, Vermögen eines Tages weiterzugeben, eine wichtige Motivation für den Aufbau und den Erhalt eines solchen Vermögens sein. Das gilt zumindest für diejenigen, die damit Ehegatten, Kinder und Enkel versorgen oder zumindest unterstützen wollen. Dieser Antrieb dürfte meist so groß sein, dass tatsächlich viele Wohlhabende versuchen könnten, der drohenden faktischen Enteignung durch eine 100-Prozent-Erbschaftsteuer zu entgehen - notfalls durch eine Flucht ins Ausland (auch wenn diese nach aktuellem Steuerrecht sehr aufwändig ist).

Falls es nach so einer Reform überhaupt noch das Institut "Erbschaft" geben sollte, dürfte die überwiegende Mehrheit der Erben zur Ausschlagung der Erbschaft tendieren, um sich der Steuerpflicht zu entziehen. Wer hat schon 500.000 Euro Cash herumliegen, wenn er plötzlich ein Haus mit einem solchen Wert erbt? Am Ende erbt also in jedem Fall der Staat. Soweit es Geld- und Wertpapiervermögen geht, ist das kein Problem. Solche liquiden Vermögenswerte kann man unproblematisch in einen staatlichen Fonds überführen und an die Bevölkerung verteilen. Aber was ist mit Wohnimmobilien? Werden die alle zwangsversteigert? Und wer führt den mittelständischen Familienbetrieb weiter? Das Finanzamt?

Bereits aus diesen Erwägungen dürfte eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent außerhalb der Medien wohl niemals ernsthaft diskutiert werden. Dennoch ist es natürlich legitim, über die Erbschaftsteuer nachzudenken. Schließlich sind volkswirtschaftlichen Herausforderungen im Zeitalter der Krisen gewaltig. Da ist die Frage berechtigt, wer wie welchen Beitrag leisten soll. Ebenso legitim ist es aber, dass Vermögende mit langfristigen Gestaltungen die Möglichkeiten des geltenden Rechts nutzen, indem Freibeträge und Steuerbefreiungen genutzt werden. Ob und wann sich diese gesetzlichen Rahmenbedingungen bei der Erbschaftsteuer ändern, ist derzeit nicht absehbar. Aktuell gibt es jedenfalls keine politische Mehrheit für eine Erhöhung der Erbschaftsteuer - für eine Abschaffung übrigens auch nicht.