Anwalt: 60 Jahre Aktienrecht

Vorstandshaftung und Aktionärsrechte

Die große Reform des Aktienrechts im Jahr 1965 jährt sich nun zum 60. Mal. Die Gerichte haben in diesen 60 Jahren das Aktienrecht geprägt – mit richtungsweisenden Entwicklungen, aber auch mit problematischen Weichenstellungen. Beides hat den Anwalt für Aktienrecht unverzichtbar gemacht – dazu eine Kolumne zum Mitschmunzeln.

Veröffentlicht am: 19.09.2025
Qualifikation: Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
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Sechzig Jahre nach Inkrafttreten des Aktiengesetzes (AktG) 1965 ist klar: Die eigentlichen Konturen des Aktienrechts sind nur wenig durch das Aktiengesetz geformt worden. Vielmehr haben die Gerichte und hier insbesondere der zweite Senat des BGH diverse Eckpfeiler in das Aktienrecht gerammt. Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat und auch die Aktionärsrechte haben schärfere Konturen bekommen. Ob das immer die richtigen Konturen für die Praxis waren, muss man als Anwalt durchaus bezweifeln. Haftungsvermeidung und Rechtsdurchsetzung sind kleine Monster geworden, die der aktienrechtlich affine Anwalt jeden Tag aufs Neue bändigen muss. Aber der Reihe nach.

Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat

Die Gerichte haben die Pflichten von Vorständen und Aufsichtsräten in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verdichtet. Damit einherging die persönliche Haftung der betroffenen Personen mit dem Privatvermögen.

Ausgangspunkt sind dabei die §§ 93, 116 AktG geblieben: Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat haften, wenn sie die Sorgfalt (Pflichten) eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verletzen. Dies soll zumindest dann nicht der Fall sein, wenn Vorstand oder Aufsichtsrat bei einer unternehmerischen (!) Entscheidung vernünftigerweise annehmen durften, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (Business Judgment Rule). Die Gerichte betonen immer wieder, dass eine Pflichtverletzung bereits dann vorliegt, wenn die erforderlichen Informationen nicht eingeholt wurden.

Besonders prägend für die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat ist die Entscheidung „ARAG/Garmenbeck“. Sie verpflichtet den Aufsichtsrat, mögliche Ersatzansprüche gegen Vorstände nicht nur zu prüfen, sondern bei hinreichender Erfolgsaussicht auch durchzusetzen. Mit anderen Worten: Die unterlassene Anspruchsverfolgung kann zu einer eigenen Haftung der Aufsichtsratsmitglieder führen. In der Folge hat sich die Aufsichtsratskultur in der Praxis deutlich professionalisiert. Aufsichtsräte agieren dynamischer, binden externe Experten (v.a. Anwälte) vermehrt ein und scheuen auch keine Haftungsklagen mehr. In der Praxis des Autors zeigt sich leider, dass Aufsichtsräte aus Sorge um die eigene Haftung Ansprüche gegen Vorstände versuchen durchzusetzen, bei denen wirtschaftlicher Aufwand und Nutzen in einem groben Missverhältnis stehen …

Compliance

Auch im Bereich Compliance hat die Rechtsprechung Maßstäbe gesetzt. Das BGH-Urteil „Neubürger“ zum Siemens-Komplex machte deutlich, dass Vorstände für die Einrichtung und Überwachung eines angemessenen Compliance Management Systems persönlich verantwortlich sind. Heerscharen von Beratern (nicht nur Anwälte) haben seitdem viel Geld bei der Errichtung interner Compliance-Systeme verdient. So richtig und wichtig diese sind, so lässt die Sorge um die eigene Haftung Vorstände zu wahren Bürokratieverfechtern werden. Jedes Organisationsverschulden löst denn womöglich die eigene Haftung aus …

Beweislast und Haftung

Die Sorge um die Haftung mit dem Privatvermögen ist auch deswegen real, weil die Beweislast im Haftungsprozess weitgehend beim Organmitglied liegt. Der Vorstand muss daher in der Praxis meist beweisen, dass er oder sie alles regelkonform gemacht hat. Die Dokumentation wird damit zum entscheidenden Schutzschild: Protokolle, Risikoberichte, Entscheidungsvorlagen und externe Stellungnahmen sind regelmäßig der Schlüssel zum Prozessausgang. Kämpfe um die wesentlichen Informationen gehören daher zum Tagesgeschäft der beteiligten Anwälte. Und ja, Entlastungsbeschlüsse sind nach Auffassung der Gerichte nur wirksam, wenn alle relevanten Informationen der Hauptversammlung offengelegt wurden. Ein Verschweigen wesentlicher Sachverhalte kann die Entlastung ins Leere laufen lassen.

D&O - Versicherung

Seit gut zwei Jahrzehnten mischt ein neuer Player im Wirrwarr der Haftungsansprüche mit: der D&O – Versicherer. Die Praxis zeigt auch hier, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Mitunter ist dieser vermeintliche Heilsbringer der Wolf im Schafspelz. Des Anwalts Praxis zeigt, dass mancher D&O-Versicherer eine schnelle einvernehmliche Lösung verhindert und es auf Deckungsklagen ankommen lässt.

Rechte der Hauptversammlung

Die Aktionärsstellung wurde von den Gerichten seit 1965 ebenfalls stark geprägt. Besonders markant ist die „Holzmüller“-Entscheidung, in der der BGH feststellte, dass außergewöhnlich bedeutsame Maßnahmen des Vorstands trotz fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage der Mitwirkung der Hauptversammlung bedürfen. Mit der „Gelatine“-Entscheidung wurde diese Linie fortgeführt und präzisiert. Der Grundsatz: Bei Eingriffen in den Kernbereich der Mitgliedschaftsrechte ist die Hauptversammlung immer einzubeziehen.

Auskunftsrecht

Als zweites Prägungsfeld hat sich das Auskunftsrecht in der Hauptversammlung (§ 131 AktG) herauskristallisiert. Antworten müssen nach Auffassung der Gerichte immer vollständig, wahrheitsgemäß und verständlich sein; pauschale oder ausweichende Angaben sind unzulässig. Da bei einer unzureichenden Beantwortung Beschlüsse der Hauptversammlung angefochten werden können, hat sich eine strategische Dimension entwickelt: Aktionäre können durch gezielte Fragen nicht nur Informationen sichern, sondern auch Ansatzpunkte für spätere Anfechtungsklagen schaffen. Der Klageindustrie, an der viele Anwälte arbeiten, hat dies die Tore geöffnet. Die Gerichte (und auch der Gesetzgeber) versuchen nun (ergänzend zum Gesetzgeber), diesen durch Missbrauch verursachten Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Das Pendel schwingt scheinbar nun wieder zurück …

Sonderprüfung, besonderer Vertreter, Klagezulassung

Besondere Bedeutung haben in den letzten Jahren die aktienrechtliche Sonderprüfung (§ 142 AktG) und der besondere Vertreter (§ 147 AktG) erlangt. Die Institute eröffnen Minderheitsaktionären die Möglichkeit, Pflichtverletzungen von Vorständen und Aufsichtsräten aufzudecken und durch einen eigenen Vertreter gerichtlich durchzusetzen. Hinzutritt das Klagezulassungsverfahren (§ 148 AktG), das Aktionären sogar eigene Klagemöglichkeiten einräumt. Zwar ist die Initiierung jeweils an strenge Voraussetzungen geknüpft, doch scheinen die Gerichte alle drei Instrumente zu ausgewogenen Instrumenten fortzuentwickeln. Der Anwalt sagt „Chapeau“.

Blick in die Zukunft: Anwalt für Aktienrecht dringender denn je

Das Thema Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat wird zukünftig noch komplexer, noch undurchsichtiger und noch unvorhersehbarer werden. Und auch die Durchsetzung und Abwehr von Rechten der Aktionäre wird vielschichtiger, intransparenter und schwer kalkulierbarer werden. 

Gut, dass es Anwälte gibt, die sich mit Herzblut, Spaß und Freude dem Aktienrecht leidenschaftlich hingeben.

Video: Aktiengesellschaft einfach erklärt

In diesem Video erklärt Rechtsanwalt Dr. Ronny Jänig die Aufgaben, Rechte und Pflichten von Vorstand, Aufsichtsrat, Aktionär, Anleger und Hauptversammlung innerhalb der Aktiengesellschaft, sowie die Vorteile und Nachteile zur GmbH.